Loretta - 2.Kapitel


Sie hatte  nun ihre Wohnung fast vollständig aufgelöst. Vor einigen Wochen schon hatten ihre beiden erwachsenen Kinder die Sachen von sich abgeholt, die ihnen wichtig waren, an denen Erinnerungen aus der Kindheit hingen oder die sie noch brauchen konnten.
Die wertvollen Sachen aus der Wohnung, wie einige technische Geräte, ihre CD-Sammlung, kostbare Bilder und Lampen hatte Loretta verkaufen können.
Die meisten Möbel und das gesamte Geschirr hatte sie, mit Hilfe ihrer Kinder,  zur Nachbarschaftshilfe gebracht.
Und schließlich hatte sie für die restlichen Sachen den Sperrmüll bestellt.

Ebenso war sie mit ihrer gesamten Kleidung verfahren. Die wertvolle Designerkleidung hatte sie an entsprechende Secondhandläden verkauft, die anderen Sachen verschenkt oder dem Roten Kreuz überlassen.

Zwei Koffer mit Dingen und Kleidung, die ihr wichtig waren, hatte sie bei ihrer besten Freundin Gisela untergestellt. Ihre  Wohnung war nun frisch gestrichen und besenrein.
Loretta lag auf ihrer Isomatte im Schlafsack auf dem Boden. Eine Kerze brannte. Der Strom war schon abgestellt.
Es war eine heiße Sommernacht. Die Balkontür stand offen. Von draußen klangen Wortfetzen von Gesprächen, da viele Leute in den Gärten saßen oder ihre Fenster geöffnet hatten.

Morgen Mittag ging ihr Flug nach Tibet. Sie verließ Deutschland auf unbestimmte Zeit.

An dem ersten Morgen, nachdem sie ihren Fernseher über den Balkon geworfen und damit irgendwie einen Schlusspunkt gesetzt hatte,  hatte  sich Loretta erst mal krank schreiben lassen. Sie hatte nämlich äußerst miserabel geschlafen und sich  gefühlt wie ein Wrack. Es war nicht schwer gewesen, den Arzt von einer beginnenden Grippe in Kombination mit Burnout und Depression zu überzeugen. Mit einem Rezept für bestimmte Kopfschmerzmittel und leichte Antidepressiva und vielen Ratschlägen hatte er sie für drei Wochen nach Hause entlassen.

In ihrer Wohnung angelangt, hatte Loretta sich nun nicht mehr mit Fernsehen ablenken können. Sie hatte  sich auf die Couch gesetzt, den gekauften Salat gegessen und sich im Wohnzimmer umgesehen.

Sie hatte überlegt, alle Möbel rauszuschmeißen, zu tapezieren, die Wohnung neu einzurichten,  sie hatte alte Möbelkataloge aus dem Schrank gekramt und im Internet nach witzigen Möbelstücken gesucht, die Wohnung ausgemessen  und nach Teppichen und Laminat geschaut. Sie hatte auch überlegt, was sie mit den Kinderzimmern machen wollte. Arbeitszimmer, Gästezimmer, Atelier, untervermieten.....

Nach einigen Stunden war sie dann erschöpft auf die Couch gesunken und hatte den Kopf geschüttelt. Nein, irgendwie hatte das alles nicht gestimmt.
Sie wollte einfach nicht mehr so weiter machen. Und als sie sich nochmal in dem Wohnzimmer umgesehen hatte, musste sie sich eingestehen: sie wollte die Wohnung nicht renovieren. Sie wollte hier raus. Sie musste hier raus. Es war ein Gedanke, von dem sie plötzlich gewusst hatte, dass sie ihn schon öfter hatte denken wollen, sich aber nicht getraut hatte, ihn aufsteigen zu lassen, weil sie sich vor den Konsequenzen gefürchtet hatte.

Sie wollte hier raus - aus der Wohnung ausziehen. Sie hatte dann nachgespürt, wie es sich anfühlte, sich diesen Gedanken doch einmal zu erlauben.

Dummerweise hatten in dem Moment auch noch weitere, bisher unbekannte  Gedanken diese plötzliche Gelegenheit wahr genommen und waren in ihr Bewusstsein geschossen. Ausziehen, alles verkaufen, hier weg gehen, woanders leben, anders leben, nie mehr zurück kehren. Sie hatte dann aber doch  Angst bekommen und ihren Fernseher vermisst, mit dem sie bisher ihre Gefühle hatte  in Schach halten können.

Die Überlegungen setzten sich fort; Ihre Kinder waren groß, die brauchten sie nicht mehr. Sie müssten eben finanziell für sich allein einstehen, und hätten ihre Mutter nicht mehr im Rückhalt. Aber wozu hatten sie einen Vater? Der könnte ihnen mehr Geld zukommen lassen.

Arbeit? Freunde? Würde sie etwas davon vermissen? Würde SIE jemand vermissen?
Tränen waren ihr plötzlich in die Augen geschossen bei dem Gedanken, dass es vielleicht niemand bemerken würde, wenn sie nicht mehr da wäre. Naja, doch - Gisela würde sie vermissen - und Joe bestimmt auch - das waren zwei alte Freunde. Aber sie wohnten beide weiter weg und würden es vielleicht erst nach Wochen mitbekommen, wenn Loretta auf und davon wäre.

Das Weinen hatte ganz gut getan, die vorige Spannung hatte sich gelöst. Loretta hatte  sich ein Glas Rotwein eingeschenkt und  einen alten Roman zur Hand genommen, um es sich mit ihrer Kuscheldecke auf der Couch gemütlich zu machen.

Ihr Wunsch, die Wohnung, die Arbeit, ihr bisheriges Leben zu verlassen, ließ im Laufe des folgenden halben Jahres in keiner Weise nach.
Sie hatte anfangs mit allen möglichen Freunden und Bekannten darüber gesprochen, damit aber nach kurzer Zeit aufgehört, da alle sie davon überzeugen wollten, dass man nicht alles aufgeben  solle. Alle rieten ihr von einer grundlegenden Veränderung ab. Man müsse bewahren, was man hat.

Später würde es vielleicht keine Arbeit mehr geben, sie sei womöglich zu alt, zu lange raus oder sonst wie nicht mehr integrierbar. Außerdem müsse sie ja auch an die Rente denken - da gäbe es sonst einen Ausfall.
Ihr fiel nach diesen Gesprächen zunehmend auf, dass sie genau das nicht mehr sein wollte: integrierbar.

Da niemand sie zu verstehen schien, ging sie nach einigen Wochen zu einem Psychiater, weil sie dachte, dass mit ihr etwas Gravierendes nicht stimmen könne. Dieser Mann hörte ihr eine Stunde lang zu, rieb sich den Bart und bestellte sie zu einem weiteren Termin. Diese  eine Woche  lang, zwischen diesen beiden Terminen, glaubte Loretta fest, dass er sie das nächste Mal wahrscheinlich in die Irrenanstalt einliefern würde.
Der zweite Besuch brachte jedoch ein Überraschung.

Dr. Hübner, wie der Psychiater hieß, erzählte die folgende Stunde Loretta sehr strukturiert von sich selbst. Nach seinem umfangreichen Studium hatte er fünfzehn Jahre in einer Psychiatrie gearbeitet und war selbst psychisch und physisch an sein Limit gekommen. Nach diesem Burnout hatte er einfach nicht weiter gewusst und auch nicht mehr gekonnt und hatte sich entschieden, alles zu verkaufen und auf unbestimmte Zeit Deutschland - mit allen Konsequenzen - inklusive Rente und Ehefrau -  zu verlassen. Dann hatte er mehrere Jahre in Tibet verbracht,
in einem Kloster gelebt, meditiert, sich sein Essen mit Gartenarbeit und Hilfstätigkeiten verdient, wie es die dort lebenden Mönche praktizierten.

Nach fast sieben Jahren hatte Dr. Hübner seine Schwester gebeten, ihm Geld zu schicken, damit er zurück nach Deutschland kehren konnte. Hier hatte er sich dann selbstständig gemacht und sich ein neues Leben aufgebaut. Ob er heute glücklicher war, ließ Dr. Hübner offen. Aber er lächelte verschmitzt, während er alles erzählte.

Er entließ  Loretta mit den Worten, dass er für sie keinerlei psychiatrische Diagnose parat hätte und weiter nichts für sie tun könne.

Auf dem Nachhauseweg, den Loretta zu Fuß vornahm, um nachdenken zu können, kam sie sich sehr allein und verlassen vor. Ihr wurde klar, dass jegliche Entscheidung über ihr Leben, die sie treffen konnte, ganz allein von ihr abhing, und dass sie niemanden hatte, dem es grade genau so ging, der ihre Gefühle im Moment teilte und mit dem sie sich hätte beraten können. Sie wusste jetzt nur, dass es zumindest einen Menschen gab, dem es schon mal genau so GING wie ihr jetzt, der sich aber mittlerweile schon wieder in einer anderen Lebensphase befand. Sie war sich natürlich auch nicht sicher, ob sie nun genau so mit ihrem eigenen Leben verfahren wollte, wie Dr. Hübner damals für sich entschieden hatte.

Sie könnte ja eben auch einfach die Wohnung renovieren oder umziehen, ihren Job wechseln. Zur Not konnte sie auch noch in eine andere Stadt ziehen, wenn das denn helfen würde, ihr Wohlbefinden wieder herzustellen oder überhaupt erst einmal zu finden. Nach Tibet auszuwandern schien ihr jetzt für sich selbst sehr weit hergeholt.

Aber es sollte eben doch anders kommen.









Fehmarn zwischen den Jahren



Das Meer erscheint im Kleid des Windes
Der Sturm peitscht über Gras und Sand
Die Brücke stellt die Bindung dar
zwischen Insel und dem festen Land.

Ihr Bogen öffnet sich zum geist'gen Reich
als Tor in die geheime Anderswelt
geschwungen breit vom Hier ins Da
sich schemenhaft gen Himmel stellt.

Im Schutz der winterlichen Dunkelheit
fliegen sie über den Fehmarnsund
auch hier auf der Insel, die nächtlichen Geister
tun sie die Raunächte kund.

Die Geister schleppen, hebeln, rasseln,
und wollen Leben an sich ziehn
sie klötern, rascheln, heulen, huschen
Sind bucklig, hässlich, wunderschön.

Wer sie erblickt und Angst empfindet
den fassen sie und fangen
wird im ew'gen Zwischenreich verbündet
und nimmermehr zurückgelangen.

Wer Wäsche trocknet in der Zeit
dem fahren sie ins Kleidungsstück
wer es trägt wird mitgenommen
auch für den gibt's kein Zurück.

Die Insel ist nun ganz durchzogen
Die Raunacht Fehrmarn ganz befällt
erst am sechsten Tag im neuen Jahr
schließt sich das Tor zur Geisterwelt.